* 38 *

»Simon!«, flüsterte Septimus. »Was will der denn schon wieder hier?«
»Er ist bei Foxys Vater. Wie immer.« Beetle rümpfte die Nase. »Die beiden sind dicke Freunde. Komm mit.« Er packte Septimus am Ärmel und zog ihn an den vergitterten Regalreihen entlang. Ganz hinten angekommen, ging er neben einem Luftschacht in die Knie, schnellte aber gleich wieder in die Höhe, als ein lautes Zischen der Rezepturen gegen Zombieschlangengift ertönte. »Igitt, ich kann Schlangen nicht ausstehen. Hab ich mich vielleicht erschrocken. Komm, Sep, du hast keine Angst vor Schlangen, probier du dein Glück. Da unten kannst du auf jeden Fall besser hören, was vor sich geht.«
»Was denn hören, Beetle?«, fragte Septimus, der sich zwischen ihm und den Rezepturen gegen Zombieschlangengift durchzwängte.
Beetle deutete auf den Luftschacht in der Wand. »Direkt dahinter ist die Hermetische Kammer«, erklärte er. »Das ist der Raum des alten Foxy, in dem er all diese geheimen Sachen macht. Normalerweise soll ich den Schacht geschlossen halten, aber manchmal ist es hier drin so miefig, dass man etwas durchlüften muss. Leg dein Ohr an den Schacht, Sep, du kannst alles hören.«
Septimus kniete sich hin, und plötzlich vernahm er Simons Stimme so klar und deutlich, als stünde er neben ihm. »Aber wenn ich es Ihnen doch sage, Hugh, mit dem Flug-Charm stimmt etwas nicht. Er ist völlig unberechenbar. Ich kann von Glück sagen, dass ich heil hier angekommen bin. Um ein Haar wäre mein neuer Gehilfe in den Wabberschlamm gefallen – obwohl es dem undankbaren Bengel nur recht geschehen wäre. Ich biete ihm die Chance seines Lebens, und er überlegt es sich mitten im Flug anders.«
»Aber Sie sollen doch keine Passagiere mitnehmen«, antwortete die missbilligende Stimme des Obermagieschreibers. »Die Kunst des Fliegens ist doch kein Taxidienst.«
»Seien Sie doch nicht so pingelig, Hugh. Sie bringen ihn in Ordnung, ja? Sie können da bestimmt etwas tun. Möbeln Sie ihn einfach ein bisschen auf.«
»Ein bisschen aufmöbeln?«, tönte Hugh Foxs Stimme ungläubig durch den Luftschacht. »Wir reden hier von der verlorenen Kunst des Fliegens, der geheimnisvollsten aller Künste, und Sie platzen hier herein und reden von aufmöbeln! Das ist der älteste Charm, den ich jemals gesehen habe. Sehen Sie sich das Gold an. Es ist aus nichts Geringerem als den Goldfäden der Aurum-Spinne, so rein und weich, dass man es kaum anzufassen wagt.«
»Du meine Güte, Hugh.« Simon klang verärgert. »So schön das verflixte Ding auch sein mag, es taugt nichts, wenn man sich beim Fliegen den Hals bricht. Außerdem bin ich mir gar nicht so sicher, dass es wirklich ein Flug-Charm ist. Das Ding kann nicht die Hälfte von dem, was Sie mir versprochen haben.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass er echt ist«, entgegnete Hugh Fox pikiert. »Ich habe jahrelang danach gesucht, und er war exakt dort, wo ich ihn vermutet hatte – im Einband dieses Buches versteckt und mit Hilfe Schwarzer Magie unsichtbar gemacht.« Septimus hörte, wie er energisch auf einen Gegenstand klopfte. »Sie müssen den Charm mit einem gewissen Respekt behandeln, Simon, anstatt ihn aufzumöbeln!«
»Hören Sie«, erwiderte Simon mit drohender Stimme, »ich würde Ihnen raten, mich mit einem gewissen Respekt zu behandeln. Heute ist der große Tag. Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Wenn alles klappt, haben Sie bald einen neuen Außergewöhnlichen Zauberer, mit dem Sie sich gut stellen müssen. Einen richtigen! Und, wie ich hinzufügen darf, einen richtigen Lehrling, nämlich meine Wenigkeit, und keinen dahergelaufenen Burschen von der Jungarmee, der einen defekten Zauber nicht von einer alten Socke unterscheiden kann.«
»Wie ich bereits sagte«, brummte Hugh Fox, »interessiere ich mich nicht für Politik. Wenn Sie mich fragen, hatten wir in letzter Zeit genug Außergewöhnliche Zauberer. Und an unserer jetzigen ist nichts auszusetzen. Und auch der Junge ist in Ordnung.«
Simons Ton wurde eisig. »Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt nichts mehr sagen. Oder wollen Sie verbraucht werden?«
»Was?«, stieß Hugh Fox erschrocken hervor.
»Sie haben schon richtig verstanden. Sehen Sie zu, dass Sie den Charm in Ordnung bringen. Ich meine es ernst. In einer Stunde komme ich wieder, und ich erwarte, dass er dann funktioniert.«
»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte Hugh Fox missmutig.
»Tun Sie es einfach. Im Übrigen werden Sie mit Freuden hören, dass dies mein letzter Besuch ist. Ich habe das letzte Teil – sehen Sie?«
Der Obermagieschreiber stieß einen Laut des Erschreckens aus, als auf etwas Hohles geklopft wurde. Simon lachte.
»Tun Sie das nicht«, sagte Hugh Fox. »Ganz gleich, wer das war, es ist respektlos.«
»Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe«, knurrte Simon. »Sie werden noch früh genug erfahren, wer das war – oder ist. Und jetzt öffnen Sie die Tür.«
Ein lautes Zischen war zu vernehmen, dann Stille.
»Aufgeblasener kleiner ...« Was der Obermagieschreiber sonst noch über Simon dachte, ging in einem lauten Knall unter, als ein großes Buch zugeschlagen wurde.
»Hast du das gehört?«, flüsterte Septimus, als er sich erhob und mit Beetle durch den Mittelgang zurückging. »Was meint er denn damit, dass wir bald einen neuen Außergewöhnlichen Zauberer bekommen?«
»Weißt du, Sep«, sagte Beetle, als sie die Tür zum Verkaufsraum erreichten, »alle hier halten ihn für einen Spinner. Und davon gibt es mehr als genug. Die glauben, sie könnten mit ein bisschen Schwarzkunst die Welt beherrschen.«
»Vielleicht will er das«, sagte Septimus.
Beetle antwortete nicht. Wieder im Verkaufsraum, sagte er: »Weißt du was, Sep? Ich gehe zum alten Foxy und lenke ihn ein paar Minuten ab. Und du flitzt rein und holst den Flug-Charm. Damit machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung. Was hältst du davon?«
Beetle verschwand im Halbdunkel des Manuskriptoriums. Augenblicke später tauchte er wieder auf und winkte Septimus aufgeregt. »Komm schnell, Sep. Wir haben Glück. Der alte Foxy hat mal wieder einen von seinen Anfällen. Er hat sich hingelegt. Komm mit.«
Septimus war im Manuskriptorium ein bekanntes Gesicht, darum schaute kein einziger Schreiber auf, als er mit Beetle in dem Gang verschwand, der zum Raum des Obermagieschreibers führte. In dem schmalen Gang war es stockdunkel, denn er verlief in sieben scharfen Biegungen, um die Flucht aus der Kammer zu erschweren. Der Gang mündete in einen kleinen, vollkommen weißen Raum, den nur eine einzige Kerze erhellte. Er war spärlich möbliert und kreisrund, damit sich widerborstige Zauber und Charms nicht in einer Ecke verkriechen konnten. Ein großer runder Tisch nahm fast den ganzen Raum ein, und an der Wand lehnte ein alt aussehender Spiegel, der größer war als Septimus. Doch für all das hatte Septimus keine Augen, als er hinter Beetle eintrat, denn ein Gegenstand auf dem Tisch fesselte seine Aufmerksamkeit. Nicht der Flug-Charm, der dort, noch an Simons Gürtel befestigt, wie achtlos hingeworfen dalag, sondern das dicke Buch daneben.
»Das ist ja Marcias Buch!«, rief er.
»Pst!«, zischte Beetle.
»Aber es ist ihres«, flüsterte Septimus aufgeregt. »Sie hatte es bei sich, als sie während der Großen Kälte von DomDaniel in die Burg zurückgelockt wurde. DomDaniel hat es an sich genommen, und seitdem hat sie es nicht mehr gesehen. Sie hat überall danach gesucht.« Er nahm das Buch in die Hand. »Siehst du? Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht.«
Beetle blickte verwirrt. »Wie ist es denn in Foxys Hände gelangt?«
»Jedenfalls ist es die längste Zeit dort gewesen«, erklärte Septimus. »Wenn ich Marcia davon erzähle, wird sie schnurstracks hierher kommen, um es zu holen.«
Beetle nahm sich fest vor, augenblicklich das Weite zu suchen, wenn er irgendwo in der Nähe des Manuskriptoriums Marcia Overstrand sichtete.
»Nimm den Charm, und dann nichts wie raus hier«, drängte er Septimus, denn jeden Moment konnte Hugh Fox auftauchen.
Der Flug-Charm war ein einfacher goldener Pfeil, kleiner, als Septimus erwartet hatte, und viel feiner, aus Gold getrieben und mit verschlungenen Mustern verziert. Die aus Weißgold gefertigte Befiederung sah merkwürdig verbogen aus, und Septimus fragte sich, ob das der Grund für Simons Schwierigkeiten war. Er wollte den Pfeil gerade vom Tisch nehmen, da bewegte sich etwas unter seiner ausgestreckten Hand. Simons Gürtel hatte sich in eine kleine rote Schlange mit drei schwarzen Sternen am Hinterkopf verwandelt. Die Schlange ringelte sich fest um den Flug-Charm, bäumte sich auf und zischte bedrohlich.
»liih!«, kreischte Beetle, hielt sich aber sofort den Mund zu und erstickte den Schrei. Doch es war bereits zu spät. Im Manuskriptorium hatte ihn jemand gehört.
»Halloooo ...?«, rief eine zögerliche Stimme aus dem Sieben-Kehren-Gang. »Ist da jemand?«
»Sep«, drängte Beetle, »wir müssen hier raus. Komm.«
»Hallo ... ?«, wiederholte die Stimme.
»Alles in Ordnung, Partridge«, rief Beetle. »Der Lehrling der Außergewöhnlichen Zauberin ist falsch abgebogen. Ich bringe ihn gerade zurück.«
»Ach so. Ich war schon etwas beunruhigt, Beetle. Mr. Fox hat mir nämlich befohlen, die Kammer im Auge zu behalten.«
»Keine Sorge, Partridge. Wir sind gleich draußen. Du brauchst nicht reinzukommen«, rief Beetle fröhlich und setzte dann leise hinzu: »Beeilung, Sep.« Septimus starrte noch immer auf die Schlange, die den Charm nicht freigeben wollte.
»Oh, Sie, Mr. Fox, Sir?«, hallte plötzlich Partridges Fistelstimme durch die Kammer. Septimus und Beetle sahen einander erschrocken an.
»Was soll denn das, Partridge?«, ließ sich die gereizte Stimme des Obermagieschreibers vernehmen. »Gehen Sie mir gefälligst aus dem Weg.«
»Hoppla ... äh, Verzeihung, Sir«, quiekte Partridge, »war das Ihr Fuß?«
»Ganz recht, Partridge, das ist mein Fuß. Hätten Sie vielleicht die Güte, von ihm runterzusteigen?«
»Aber selbstverständlich, Mr. Fox. Verzeihung, Sir, bitte vielmals um Verzeihung.«
»Du liebe Güte, so gehen Sie doch endlich wieder an Ihren Schreibtisch und hören Sie auf, sich zu entschuldigen.«
»Verzeihung, Sir ... äh ... ich meine, jawohl, Mr. Fox. Wenn ich mich mal eben vorbeizwängen dürfte, Sir. Verzeihung.«
»Oh, gib mir Geduld ...«
In der Zeit, die Partridge benötigte, um sich an Hugh Fox vorbeizudrängeln, abermals eine Entschuldigung zu stammeln und zu seinem Schreibtisch zu flüchten, hatte Beetle an einem großen Messinghebel gezogen, der aus der Wand ragte. Ein leises Zischen erfüllte den Raum, und diesmal war es nicht die Schlange. Am Boden unter dem Tisch öffnete sich langsam eine runde Falltür, durch die eiskalte Luft in den Raum strömte.
»Da runter, Sep, schnell!«, drängte Beetle. Septimus warf einen bedauernden Blick auf die Schlange, die immer noch fest um den Charm geringelt war und jetzt noch wütender zischte, weil sie das Geräusch der Falltür für das Zischen einer Artgenossin hielt. Da Hugh Fox’ Schritte sich jedoch rasch näherten, schnappte er sich Marcias Buch und schlüpfte, dicht gefolgt von Beetle, durch die Falltür.